Standpunkt der Kunsthistorikerin

„Das Umsetzen des Spannungsverhältnisses von Ruhe und Explosion im Bild“ 
Kunsthistorikerin Mag. Marion R. Gruber

her choice 165x50
her choice 165×50

Ingo Meraners malerische Auseinandersetzung mit Farbe, Form, Fläche und Linie beginnt Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Er arbeitet in Mischtechnik auf Leinwand und verwendet dabei die Materialien: Acrylfarbe, Pigment, Kohle, Grafit und Strukturmaterial.

Der Künstler malt nicht mit dem Pinsel, sondern arbeitet mit Spachteln oder direkt aus der Tube. Er schüttet Farbe, er tropft Farbe, er legt Farbschichten übereinander und kratzt Malschichten wieder heraus. Die Acrylfarbe wird Schicht um Schicht auf die auf dem Boden gespannte Leinwand gebracht. Farbräume und Strukturen werden geschaffen, wobei Zwischenbilder entstehen, die übermalt und zerstört werden, bis neue Formen erkennbar sind.

Durch die verschiedenen Trocknungszeiten entstehen Zeitfenster, in denen die tieferliegenden Farbschichtungen freigelegt werden. Die durch Zufall bestimmten Formen bieten  Anknüpfungspunkte für neue Formen. In diesem fast meditativen Entwicklungsprozess wird eine Basis geschaffen, welcher Stunden dauern kann, aber auch tagelanges Arbeiten bedeutet.

Die Quintessenz des Bildes entsteht oft in wenigen Minuten in expressiven Gesten. Dahinter steht kein konzeptionelles Vorgehen, sondern es handelt sich vielmehr um eine Komposition, die durch Improvisation entsteht. 

Ingo Meraners Mal- und Gestaltungsweise steht in der Tradition Abstrakter Kunst und ist eine 
Mischung aus „Skripturaler Malerei“ und „Action Painting“. Sie kann auch unter dem allgemeinen Sammelbegriff des „Abstrakten Expressionismus“ gefasst werden.

blue see
blue see

Bei der Skripturalen Malerei geht es darum, die Schreibbewegung sichtbar zu machen. Dies ist ein dynamischer Prozess, durch den sich die Schreibspur zeigt. Hierbei handelt es sich um völlig sprachentleerte Kaligraphie. Das „Schreiben“ wird zum individuellen auf Rhythmen und Gesten bezogenen Selbstausdruck. 

Thematisiert wird das Grafische in der Schrift, nicht das lesbare Wort. Der Übergang zwischen dem Duktus der Schrift und der Schreibspur des Malens und Zeichnens ist fließend. Das was wir sehen, sieht zwar wie Schrift aus und hat dieselbe Struktur, kann als solche jedoch nicht entziffert und gelesen werden.

 
Speak
Speak

Beim Action Painting wird das „Schreiben“ auf die Gesamtbewegung des Körpers übertragen und geht somit über die Skripturale Malerei hinaus. Der künstlerische Akt des Tropfens oder des Schüttens der Farbe auf die am Boden befindliche Leinwand erfolgt aus der Bewegung heraus. Er zeigt Energie, Eruption, Unruhe und kaum kontrollierte Gestik. Das Spontane wirkt aber trotzdem im Moment von Spannung und Entspannung festgehalten und zeigt die Umsetzung des Spannungsverhältnisses von Ruhe und Explosion im Bild. Die Aktion geht vom Unbewussten aus und schließt sogleich den Zufall mit ein, der bei Ingo Meraner eine wichtige Rolle spielt. Durch das „Aufschreiben“ des Unbewussten kommt es bewusst zu einer ästhetischen Entscheidung – eine Komposition entsteht.

From Dream To Dream 40x55
From Dream To Dream 40×55

Der Mensch ist ein visuelles Wesen und versucht sich, stark am Sehsinn orientiert, in seiner Umwelt zurechtzufinden. Er versucht das Wahrgenommene zu ordnen, zu kategorisieren und wenn möglich zu verstehen. Aus Erfahrung wissen wir, dass wir oft nur einen kurzen Blick auf etwas werfen und uns den Rest einfach dazu denken. Wir nehmen nur bestimmte Punkte, Zeichen oder Symbole wahr.

Der Künstler Ingo Meraner reizt die Wahrnehmung und den Ordnungssinn des Betrachters. 

An arabische oder japanische Schriftzeichen erinnernde Linien fesseln den Blick und fordern das Denken heraus. Ingo Meraner spielt mit Farbe, Form, Fläche und Linie und bezieht den Betrachter in dieses Spiel ein. Lässt sich dieser auf das Kunstwerk ein, tritt er näher, wird durch den Betrachter selbst Bedeutung aufgeladen. Dies kann durch Meditation geschehen, durch eigene Erfahrungen, Erlebnisse oder innere Befindlichkeiten, die mit dem Werk verknüpft werden. Ingo Meraners Intention ist es, dem Betrachter diese gedanklichen Freiräume zu lassen und ihn zur Interpretation anzuregen. Erst durch seine Mitarbeit kommt das Werk des Künstlers Ingo Meraner zur vollen Ausdruckskraft und Geltung.

©November 2004, Marion R. Gruber